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Wieder hörte sie das Seufzen, das jetzt eher wie ein leidvolles
Knurren klang. Vorsichtig näherte sie sich dem Eingang der
Grotte, die von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne in
ein goldenes Licht getaucht wurde.
»Hallo?«, rief sie. »Ist da jemand?«
Ein Rascheln, ein Scharren, ein Tapsen, und dann stand er vor
ihr.
Ein blauer Tiger mit silbernen Streifen. Er sah genauso aus wie
der Tiger von ihrem Bild.
Héloïse riss die Augen auf. »Ach, du meine Güte!«, murmelte
sie und war nun selbst ein bisschen erstaunt.
»Was starrst du mich so an?«, knurrte der blaue Tiger, und vor
Schreck fiel Héloïse im ersten Moment gar nicht auf, dass dieser
Tiger auch noch sprechen konnte.
»Bist du etwa der blaue Tiger?«, fragte sie schließlich
vorsichtig.
»Sieht man das nicht?«, gab der Tiger zurück. »Ich bin ein
Wolkentiger.« Er warf Héloïse einen kühnen Blick aus seinen
leuchtend blauen Augen zu.
»Oh«, sagte Héloïse. »Da hätte ich auch gleich drauf kommen
können.« Sie schaute ihn zweifelnd an. »Sind Wolkentiger ge-
fährlich?«, fragte sie dann.
»Kein bisschen«, antwortete der blaue Tiger und verzog sein
Maul zu einem Grinsen. »Jedenfalls nicht für Kinder.«
Héloïse nickte erleichtert. »Darf ich dich mal streicheln?«,
fragte sie. »Ich hab heute nämlich Geburtstag, musst du
wissen.«
»Wenn das so ist, darfst du sogar auf mir reiten«, sagte der
blaue Tiger. »Aber erst musst du mir helfen. Ich habe mir näm-
lich dummerweise in dem Rosenbeet da drüben einen Dorn in die
Pfote getreten.«
Er kam etwas näher, und Héloïse bemerkte, dass er seine
rechte Pfote nachzog.
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»Oh weh«, sagte Héloïse, die auch schon mal einen Splitter im
Fuß gehabt hatte. »Das kenne ich, das tut weh. Lass mal sehen,
Tiger.«
Im letzten Licht der Sonne streckte ihr der Tiger seine Pfote
hin, und Héloïse, die sehr scharfe Augen hatte, sah den Dorn und
zog ihn mit einem beherzten Ruck heraus.
Der blaue Tiger stieß ein schmerzerfülltes Gebrüll aus, und
Héloïse sprang erschrocken zurück.
»Entschuldige«, sagte der blaue Tiger und leckte seine Wunde.
»Wir sollten es verbinden«, meinte Héloïse. »Warte, wir neh-
men das hier!« Sie griff in den Malbeutel und zog einen weißen
Lappen hervor, der schon ein paar Farbkleckse hatte, aber an-
sonsten noch einwandfrei war, und band ihn dem blauen Tiger
um die Pfote.
»Tut mir leid wegen der Farbkleckse«, sagte sie. »Aber besser
als nichts.«
»Die Farbkleckse gefallen mir besonders gut«, brummte der
blaue Tiger. »Da, wo ich herkomme, sagt man, dass Farbkleckse
das Schönste im Leben sind.« Zufrieden betrachtete er den
getupften Lappen, der nun um seine Pfote gewickelt war. »Und
himmelblaue Kieselsteine natürlich  solche, wie man sie nur in
dem blauen See hinter den blauen Bergen findet. Die sind auch
sehr kostbar, weil sie nur alle paar Jahre vom Himmel fallen.
Himmelskiesel bringen Glück, sagt man bei uns. Hast du schon
einen?«
Héloïse schüttelte verwundert den Kopf. Himmelblaue Kiesel-
steine hatte sie noch nie gesehen. Und schon gar nicht welche,
die vom Himmel gefallen waren.
»Und wo kommst du her?«, wollte sie wissen.
»Aus dem blauen Land.«
»Ist das weit weg von hier?«
»Oh ja, sehr weit. So weit, dass man fliegen muss.«
»Mit dem Flugzeug?« Héloïse war noch nie in ihrem Leben
geflogen.
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Der Tiger rollte mit den Augen. »Um Himmels willen, doch nicht
mit dem Flugzeug! Das ist viel zu laut und viel zu langsam.
Außerdem gibt es bei uns keine Flugzeuglandeplätze. Nein, nein,
ins blaue Land kommt man nur mit der Sehnsucht.«
»Aha«, sagte Héloïse verdutzt.
Die Sonne war untergegangen, und am Himmel, der sich jetzt
sehr rasch immer dunkler färbte, sah man bereits den Mond dick
und rund aufgehen.
»Was ist?«, fragte der blaue Tiger. »Drehen wir eine kleine
Runde?« Er neigte den Kopf ein wenig und wies auf seinen silber-
blau-getigerten Rücken. »Steig auf, Héloïse.«
Héloïse wunderte sich keinen Moment darüber, dass der blaue
Tiger ihren Namen kannte. Sie wunderte sich auch nicht, dass er
fliegen konnte. Schließlich war er ein Wolkentiger. Sie kletterte
auf seinen Rücken, schlang beide Arme um seinen Hals und
schmiegte ihr Gesicht fest an sein weiches Fell, das jetzt im
Mondschein silbrig glänzte.
Und dann flogen sie los.
Bald lagen die Grotte der Vier Winde, der weiße Pavillon, das
kleine rosafarbene Schloss, die plätschernden Wasserfälle und die
duftenden Rosenbeete weit hinter ihnen. Sie überquerten die
dunklen Wälder des Bois de Boulogne und sahen in der Ferne die
Stadt mit ihren tausend und abertausend Lichtern, den Triumph-
bogen, der sich majestätisch aus dem Stern der Straßen erhob,
und den Eiffelturm, der schlank und glitzernd in den Nachthimmel
ragte und über die Stadt wachte.
Noch nie zuvor hatte Héloïse Paris von oben gesehen. Sie hatte
gar nicht gewusst, dass ihre Stadt so schön war.
»Wie großartig das ist!«, rief sie aus. »Alles ist so anders, wenn
man es von oben sieht, findest du nicht, Tiger?«
»Es ist immer gut, wenn man die Dinge von Zeit zu Zeit als
Ganzes betrachtet«, sagte der blaue Tiger. »Und das geht am be-
sten von oben. Oder von weitem. Erst wenn man das ganze Bild
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sieht, erkennt man, wie gut sich in Wahrheit alles
zusammenfügt.«
Héloïse schmiegte sich eng an sein weiches Fell, als sie jetzt in
einer weiten Schleife wieder in Richtung Bois de Boulogne
zurückflogen. Die Luft war sommerlich und warm, und ihre
goldenen Haare flatterten im Wind. Unten auf der Seine, die sich
wie ein dunkles Samtband durch die Stadt schlängelte, glitten die
Ausflugsboote mit ihren bunten Lämpchen dahin, und hätte je-
mand von dort unten nach oben geschaut, hätte er eine
langgestreckte indigoblaue Wolke mit einem flirrenden Goldrand
gesehen, die die Form eines fliegenden Tigers hatte, und sich vi-
elleicht ein wenig gewundert. Vielleicht hätte dieser Jemand aber
auch geglaubt, dass es der Schweif einer Sternschnuppe war, der
da am Nachthimmel aufblitzte, und sich etwas gewünscht.
»Ich bin so froh, dass es dich wirklich gibt!«, rief Héloïse dem
Tiger ins Ohr, als sie jetzt dicht über dem Parc de Bagatelle
schwebten und ihr der Duft der Rosen um die sommersprossige
Nase wehte. »In der Schule haben mich alle ausgelacht.«
»Und ich bin froh, dass es dich gibt, Héloïse«, sagte der blaue
Tiger. »Weil du nämlich ein ganz besonderes Mädchen bist.« [ Pobierz caÅ‚ość w formacie PDF ]

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